Kulturgeschichte in Texten

Orientierung

Anhand von Texten - In Texten steckt die Kulturgeschichte drin


Weiß einer noch nach Jahren, aus welchem klassischen Drama und aus
welchem Akt ein Zitat stammt, so hat die Schule ihren Zweck verfehlt. Aber
fühlt er, wo es stehen könnte, so ist er wahrhaft gebildet, und die Schule hat
ihren Zweck vollkommen erreicht.

Karl Kraus, Beim Wort genommen, München 1955, S.84

Anekdote von Agassiz und dem Fisch

Ein Doktorand, mit Auszeichnungen und Diplomen versehen, kam zu Agassiz, sich den letzten Schliff geben zu lassen. Der große Mann reichte ihm einen kleinen Fisch und forderte ihn auf, den zu beschreiben.
Doktorand: „Das ist einfach ein Sonnenfisch.“
Agassiz: „Das weiß ich. Beschreiben Sie ihn.“
Nach wenigen Minuten kehrte der Student mit der Beschreibung des Ichthus Heliodiplodokus zurück, Familie des Heliichterinkus, oder wie man sonst sagt, um den gemeinen Sonnenfisch dem allgemeinen Wissen vorzuenthalten, und wie man es eben in den einschlägigen Lehrbüchern findet. Agassiz trug dem Studenten von neuem auf, den Fisch zu beschreiben. Der Student verfertigte einen vier Seiten langen Aufsatz. Agassiz hieß ihn dann, sich den Fisch anzusehen. Drei Wochen später war der Fisch im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, aber der Student wuße etwas über ihn.

Ezra Pound, ABC des Lesens. 1967, Bibliothek Suhrkamp 40




Die Philosophen haben die Welt bisher nur interpretiert.
Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.

Karl Marx: Bis 1989 in goldenen Lettern in der Eingangshalle der DDR-Humboldtuniversität in Ost-Berlin






Wenn man in Europa einen Menschen auffordert, etwas zu definieren, entfernt sich seine Definition immer mehr von den einfachen, ihm vertrauten Dingen; sie entweicht in eine unbekannte Region, in eine Region abgelegener und immer weiter abgelegener Abstraktion.
Fragt man ihn also, was rot ist, so sagt er, es ist eine „Farbe“.
Fragt man ihn, was eine Farbe ist, so erklärt er, es sei eine Schwingung oder eine Brechung des Lichts oder ein Teil des Spektrums.
Fragt man ihn, was eine Schwingung ist, so sagt er, es sei eine Erscheinungsform der Energie oder etwas Derartiges, bis man schließlich zu einer Modalität des Seins oder Nicht-Seins gelangt und den Boden unter den Füßen ver liert; jedenfalls er.
. . .
Ein Chinese, der „rot“ definieren soll, stellt folgende gekürzte Bilder zusammen:
                 ROSE    KIRSCHE
                 ROST    FLAMINGO
Das ist ungefähr das, was (auf viel kompliziertere Weise) der Biologe tut, wenn er einige hundert oder tausend Abstriche zusammenträgt und herausliest, was er für eine allgemeine Aussage benötigt. Etwas, das auf den Einzelfall zutrifft, das für alle Fälle gilt.

Ezra Pound, ABC des Lesens. 1967, Bibliothek Suhrkamp 40